Alkoholismus und andere Suchterkrankungen

Gedanken und Thesen zu Entstehung und Krankheitsverlauf

Oft wird in unseren Gruppen sinngemäß die Frage gestellt: „Warum soll gerade ich abhängig von Alkohol (oder einem anderen Suchtmittel) geworden sein? Ich kenne doch eine Menge Leute, die genauso viel oder gar noch mehr trinken (konsumieren) wie ich und die nicht abhängig geworden sind.“ Dem kann man zum Einen entgegen, dass man ja nicht genau weiß, ob diese Leute nicht doch abhängig sind oder es vielleicht noch werden können und zum Anderen ist es halt eine Tatsache, dass manche Menschen ihr Leben lang eine riskante (und auf jeden Fall gesundheitsschädliche) Menge an Alkohol (Suchtmitteln) konsumieren können, ohne jemals suchtabhängig zu werden, andere aber eben nicht. Warum dies so ist, ist nicht leicht zu beantworten bzw. auch von der Wissenschaft noch nicht endgültig geklärt.

Am einfachsten nähert man sich der Frage nach Entstehung und Verlauf einer Suchterkrankung, in dem man die Erscheinungsformen der Alkoholkrankheit, die der amerikanische Physiologe Jellinek klassifiziert hat, zu Rate zieht. Denn dieser hat bei seiner Einteilung auch bereits mögliche Ursachen mit einbezogen. Jellinek unterscheidet, für uns manchmal nach wie vor ungewöhnlich, zwischen alkoholkranken und nicht alkoholkranken Alkoholikern, nennt aber beide Gruppen dennoch Alkoholiker, z. B. auch die eingangs erwähnten Vertreter, die offenbar nicht abhängig (oder nach Jellinek nicht alkoholkrank) sind. Diese Unterscheidung bzw. Unterteilung kann auch erklären, warum es beispielsweise in unserer Gesellschaft lt. Statistik der DHS nur ca. 2,4% Alkoholiker (bei Jellinek Alkoholkranke), dazu aber 3,8 %  Konsumenten, die Alkoholmißbrauch betreiben und nochmals  einen erheblich größeren Anteil an sog. Risikotrinkern, nämlich fast 16,5%, gibt.

Zu den nicht alkoholkranken Alkoholikern zählt Jellinek die „Konflikt-, Erleichterungs- und Wirkungstrinker“  („Alpha-Alkoholiker“) und die Gewohnheitstrinker („Beta-Alkoholiker“). Die erste Gruppe sucht aufgrund seelischer Anfälligkeit im Alkohol-Konsum Entspannung, Entlastung und Beseitigung von Unsicherheit. Die zunächst positive Wirkung, die das Suchtmittel dann erzielt, lassen die Betroffenen dann immer wieder in belasteten Situationen darauf zurückgreifen. Auf diese Weise entwickeln „Alpha-Alkoholiker“ zwar eine seelische Abhängigkeit, können aber jederzeit abstinent leben und sind lt. Jellinek weder süchtig noch alkoholkrank. Beispiele für beinahe alltägliche Situationen, in welcher nach der erwünschten Wirkung des Suchtmittels gesucht wird, könnten sein:

  • Ein Arbeiter, der sich nach einem hartem Arbeitstag beim Fernsehen mit ein paar Flaschen Bier entspannt
  • Der schüchterne Jüngling, der es erst nach ein paar Bier schafft, ein Mädchen zum Tanz aufzufordern oder sonst wie anzusprechen
  • Ein etwas hölzerner Mensch, dem es plötzlich geling, sich locker und ungehemmt in einer ihm sonst ungewohnten Gesellschaft zu bewegen
  • Ein Angestellter, der endlich den Mut aufbring, mit seinem Chef  eine lange hinausgeschobene  Aussprache zu führen
  • Ein Geschäftsmann, der mit Hilfe eines zu seinem Status passenden Getränks (vielleicht Whisky) versucht, Abstand  zum Ärger, Stress und zur Hektik des Tages zu gewinnen
  • Ein junges Mädchen, das versucht, den Kummer über die Trennung von ihrem Freund zu ertränken
  • Eine alleinstehende Frau, die den einsamen Abend in ihrer Wohnung erträglich „gestalten“ will.

Bei der zweiten Gruppe („Gewohnheitstrinker“ – „Beta-Alkoholiker“) handelt es sich um Menschen, die aus Gewohnheit oder aufgrund ihres Lebenswandels häufig und übermäßig Alkohol  konsumieren. Durch diesen beinahe regelmäßigen und vor allem hohen Konsum treten bei einigen erhebliche organische und körperliche Störungen auf, die auf eine Vergiftung des Körpers zurückzuführen sind. Dennoch entwickelt dieser Typus Mensch, vermutlich aufgrund seiner besonders stabilen körperlichen wie seelischen Konstitution, keine Abhängigkeit, weder seelisch noch körperlich.

Zu den krankhaft abhängigen und süchtigen Trinkern zählt Jellinek zunächst, in Fortführung seiner am griechischen Alphabet orientierten Aufzählung die „Gamma-Alkoholiker“ (auch "Rauschtrinker"). In dieser Gruppe  treten auch die häufigsten Phasen einer Alkoholerkrankung auf. Beim Gamma-Alkoholiker ist der Trinkbeginn vergleichbar mit dem des Alpha-Alkoholikers (Konflikt- Erleichterung-Wirkung). Jedoch nimmt das Konflikt- und Erleichterungstrinken mit fortschreitender Krankheit überhand, es werden nun große Mengen Alkohol  nötig, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Die Alkoholverträglichkeit nimmt vorerst zu. Nach einer gewissen Zeit sind solche Alkoholiker in der Lage, erhebliche Mengen zu konsumieren, ohne sichtbar betrunken zu erscheinen. Dadurch fallen Sie zunächst nicht unangenehm auf, ja sie werden als kontaktfreudige Menschen oft gerne gesehen und wegen ihres großen Stehvermögens z. T. sogar noch eher bewundert. Aber mit der weiter fortschreitenden Krankheit verlieren sie jedoch die Kontrolle über ihre Trinkmenge, sie sind nicht mehr in der Lage, diese zu steuern oder aus eigener Kraft zu beenden. Es treten vermehrt Erinnerungs- und Gedächtnislücken auf. Bereits kleinste Mengen Alkohol lösen den unwiderstehlichen Drang aus, weiter zu trinken. Diesen Kontrollverlust erleiden sie nun ständig und wenn sie diese Phase erst einmal erreicht haben, werden sie ihn zeitlebens beibehalten. Das Wissen um diesen Kontrollverlust (auch wenn er den Betroffenen häufig als Begriff nicht  bekannt ist) führt zu vergeblichen Versuchen, kontrolliert trinken zu wollen. Dahinter steht ja bereits das unausgesprochene Eingeständnis, auf das Suchtmittel nicht mehr verzichten zu wollen (oder zu können). Die Versuche scheitern aber fas ausnahmslos. Eine weitere Phase bei diesem Krankheitsverlauf ist der Zusammenbruch des Erklärungssystems, mit welchem der Betroffene sein Trinkverhalten seiner Umgebung gegenüber glaubhaft erklären konnte oder wollte. Es beginnt eine gesellschaftliche Isolation; daraus resultiert oft auch heimliches Trinken. Erste Selbstmordgedanken kommen auf, sie werden manchmal als Druckmittel gegenüber Angehörigen geäußert und manchmal leider auch umgesetzt. In der chronischen Phase beginnt auch schon das morgendliche Trinken, das durch eine schon stark ausgeprägte körperliche Abhängigkeit bedingt wird. In einem letzten Stadium nimmt durch den körperlichen Verfall die Alkoholtoleranz so weit ab, dass schon geringe Mengen Alkohol einen Vollrausch erzeugen. Das Trinken nimmt dann den Charakter der Besessenheit an. Ein abrupter körperlicher Entzug kann in diesem Stadium Krampanfälle und andere lebensbedrohlichen Reaktionen (Delirium tremens) hervorrufen. Bei noch weiter fortschreitender Krankheit besteht die Gefahr des geistigen Verfalls und des vorzeitigen Todes.

Die zweite Gruppe der süchtigen Alkoholiker sind die Spiegeltrinker (nach Jellinek „Delta Alkoholiker“). Sie sorgen für einen stets gleichmäßigen Blutalkoholgehalt. Ähnlich wie beim „Gamma-Alkoholiker“ sorgte eine stetige Zunahme der Alkoholtoleranz für eine starke körperliche Abhängigkeit, welche den Betroffenen zwingt, ständig Alkohol zu sich zu nehmen. Im Gegensatz zum  vorgenannten Typus erleiden Spiegeltrinken aber keinen Kontrollverlust; d.h., sie haben ihren Alkoholkonsum tatsächlich soweit „unter Kontrolle“, dass sie zwar ständig alkoholisiert, aber nicht auffällig oder gar total betrunken sind und sie fallen daher ihrer Umwelt am wenigstens auf. Spiegeltrinker werden häufig fälschlicherweise auch als  Gewohnheitstrinker bezeichnet. Sie trinken aber nicht aus Gewohnheit, sondern weil sie abhängig sind. Häufig entwickeln sie sich aber aus Gewohnheitstrinkern („Beta-Alkoholikern“). Unter Spiegeltrinker findet man auch die meisten der Alkoholiker, die (zu Recht?)  in Abrede stellen, wegen Problemen zu trinken.

Die letzte Gruppe der süchtigen Alkoholiker sind die Quartals-Trinker („Epsilon-Alkoholiker“). Man nennt sie Quartals-Trinker, weil sie, vermutlich aus eigener Einsicht in ihr problematisches Trinkverhalten, wochen- oder gar monatelange Trinkpausen einlegen. Das Anhäufen von Problemen bzw. depressive Verstimmungen begleitet von erhöhter Reizbarkeit führen dann aber zum völlig unkontrollierten, maßlosen Trinken, das oft tagelang anhält. Wie aus der Ursache des Trinkbeginns hervorgeht, entwickeln sich Quartalstrinker aus Konfliktrinkern oder aus Gammatrinkern, die zumindest zeitweise versuchen, abstinent zu leben.

Wie bereits eingangs erwähnt, liefert die Klassifizierung der Erscheinungsformen der Alkoholkrankheit auch bereits einige Hinweise auf die Ursachen der Erkrankung. Sie erklärt aber noch nicht, warum sich einige (wenige) von den nichtsüchtigen Alpha- und Beta-Trinkern zu den süchtigen Gamma, Delta und Epsilon-Trinkern entwickeln, während die meisten anderen ihr Leben lang im Stadium des zwar riskanten, aber nicht abhängigen Konsums verharren können.  Hier neigt man in letzter Zeit immer mehr zu der (auch statistisch belegbaren) Ansicht, dass hierfür genetische Veranlagungen verantwortlich sind. Es gibt Aussagen, wonach der Anteil an erblichen Faktoren bei einer Alkoholerkrankung (Suchterkrankung) bei 60 % liegt.

Zusammenfassen kann gesagt werden, dass die Ursachen einer Suchterkrankung im Zusammenwirken von drei Faktoren zu suchen sind:

1. Fehler in der Persönlichkeitsentwicklung, z. B.

   a) Nicht gelernt zu haben, schwierige Situationen angemessen zu bewältigen
   b) Mangelndes oder übersteigertes Selbstbewusstsein
   c) Traumatische Kindheitserfahrungen

2. Einfluss der Umwelt (gewohnheitsmäßiger Konsum)

3. Vererbung

Hierbei dürfen dann bei den Gewohnheits- und Spiegeltrinkern die Umwelteinflüsse den größeren Anteil haben.

Die Einteilung nach Jellinek gilt natürlich nur für Alkoholiker und lässt sich sicherlich nicht Eins zu Eins auf andere Suchtformen anwenden. Dennoch finden sich auch dort Parallelen zu der einen oder anderen Ausprägung. So kann man bei Drogenabhängigen eine Trennlinie zwischen weichen und harten Drogen ziehen, zwischen häufig und heftig ausprobiert haben und hängen geblieben zu sein. Und auch bei Drogensüchtigen findet man die, die einfach aufgrund ihres Umfeldes Verschiedenes probiert haben, was gerade angesagt war und die, die aus wirklich schwierigen Verhältnissen stammen.

Medikamentenabhängige können aufgrund gewohnheitsmäßiger Einnahme (z. B. Schmerzmittel bei länger anhaltenden Schmerzen) oder psychischer Störungen (Einnahme von Psychopharmaka = Konflikt-Erleichterungs-Wirkungs-Muster) abhängig werden.

Zu beachten ist auch, dass die unterschiedlichen Suchtsubstanzen auch ein unterschiedlich hohes Suchtpotential haben. Nichtstoffgebundene Süchte (wie z. B. die Spielsucht) erzeugen natürlich keinerlei körperliche Abhängigkeit, wohl aber eine seelische, deren Entzug durchaus auch körperliche Auswirkungen wie Zittern und Schweißausbrüche hervorrufen kann. Sog. „weiche Drogen“ haben ein relativ geringes Suchtpotential, währen man beispielsweise von Heroin nach nur wenigen Injektionen bereits körperlich schwer abhängig werden kann. Das Suchtpotential bei Medikamenten ist sehr verschieden und daher fast eine Wissenschaft für sich. Alkohol hat ein vergleichbar niedriges Suchtpotential (außer der harten Getränke). Daher dauert die Entwicklung zum abhängigen Alkoholiker bei Männern auch durchschnittlich 10 Jahre, bei Frauen allerdings aus organische bedingten Gründen nur 2 Jahre.

Die Höhe des Suchtpotentials dürft auch Einfluss auf den Anteil derer haben, die durch Gewöhnung abhängig geworden sind. Nikotin hat beispielswese ein vergleichbar hohes Suchtpotential. Schon  wenige Monate der „Probierzeit“ vor allem in jungen Jahren führen zu einer körperlichen Abhängigkeit. Das Verlangen nach der Zigarette lässt sich nur noch schwer unterdrücken. Man könnte daraus schließen, dass Raucher in erster Linie in das Gewohnheits-Muster passen. Wenn wir uns als Raucher (oder ehemalige) aber einmal gewärtig werden, in welchen Situationen wir jeweils zur Zigarette greifen (gegriffen haben), werden wir feststellen, wie hoch der Anteil an Konflikten, Erleichterung oder Wirkung  sind (waren).

Gerade letztes Beispiel macht deutlich, dass es durchaus schwierig (bis unmöglich) ist, andere Suchtformen in die von Jellinek für Alkoholiker beschriebenen Muster einzuordnen. Das ist aber insofern nicht weiter von Belang, als auch dort schon darauf hingewiesen wird, dass die einzelnen Typen nicht klar voneinander abzugrenzen sind, sonder es immer wieder auch Mischformen gibt.

Zum  Thema Rauchen noch eine Anmerkung: Oft erlebt man in unseren Gruppen, dass einige Angehörige ihr Unverständnis darüber äußern, wie man denn süchtig werden könne. Werden diejenigen aber gefragt, ob sie rauchen, wird diese Frage auch schon mal mit „Ja (aber)“ beantwortet! Das zeigt  doch, dass von einem großen Teil (zumal dem betroffenen Teil) unserer Gesellschaft Rauchen gar nicht als Sucht wahrgenommen wird oder nicht wahrgenommen werden will.

Uwe Aisenpreis