"Ich hatte großen Respekt vor der Aufgabe"

Was kommt nach der Beendigung eines elementaren Lebensabschnits?

Meine alkoholbedingte Suchtlaufbahn endete mit einem Zusammenbruch in der Mitte meiner Lebensarbeitszeit. Nachdem ich nun alle meine Energie, von welcher ich zuvor sehr viel für mein heimliches Trinken als Spiegeltrinker benötigt hatte, auf mein berufliches Fortkommen einsetzen konnte, hatte ich in relativ überschaubarer Zeit meinen Karriereknick hinter mir gelassen.

Die Selbsterfahrung, welche ich in den Gruppengesprächen, der Ausbildung zum Gruppenbegleiter, vielen Seminaren und Weiterbildungen der Freundeskreise erleben und auch verinnerlichen durfte, hatte auch die Einstellung zu meinem Arbeitsumfeld und Aufgabengebiet geprägt. Als Vorgesetzter sah ich in den Mitarbeitenden nicht nur die Arbeitskraft, sondern den „ganzen Menschen“ wie wir es auch im Leitbild der Freundeskreise verankert haben. Ich hatte wohl durch die „Freundeskreiserfahrungen“ ein besseres Auge und offeneres Ohr für die Sorgen, Nöte und manchmal Ängste meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, obwohl es mit dem eigentlichen Arbeitsleben und den dort zu bewältigenden Herausforderungen nichts zu tun hatte. Das wurde sehr geschätzt und ich fühlte mich in meiner Arbeitswelt sehr wohl und anerkannt.

Vorzeitig in den Ruhestand?

Dann tauchte plötzlich mit 57 Jahren die Frage auf, das aktive Berufsleben über das sogenannte „Altersteilzeitmodell“ vorzeitig zu beenden. Auf den ersten Blick ein verlockendes Angebot, denn ist es nicht immer der geheime oder offene Wunsch, endlich den Arbeitsalltag hinter sich zu lassen und die Ruhestandszeit zu beginnen? Als ich aber dann vor dieser Entscheidung stand, gingen mir dabei doch viele Gedanken, verbunden mit Unsicherheiten und offenen Fragen, durch den Kopf. Zunächst einmal die materielle Seite: Reicht das verminderte Einkommen, welches mit einer Altersteilzeitregelung und dem damit verbundenen früheren Eintritt in die Altersrente verbunden ist? Aber auch die Frage: Wie sehr werde ich meine beruflichen Aufgaben und Herausforderungen, sowie meine Mitarbeiter/innen und Kollegen/innen vermissen, denn sie waren ein Großteil meiner sozialen Kontakte, zumal ich inzwischen schon 6 Jahre getrennt und allein lebte.

Rat der Gruppe gefragt

Wie fülle ich dann meinen Tag sinnvoll aus, wie setze ich meine Energie ein, z.B. etwas Sinnvolles auf den zu Weg bringen, etwas zu planen, Menschen zu motivieren, zu gestalten, Verantwortung zu übernehmen und natürlich auch Anerkennung zu erhalten? Fragen über Fragen, deren Antworten sich oft im Kreis drehten. Aber ich hatte ja meine Freundeskreisgruppe und damit eine Plattform und Unterstützung für meine Entscheidungsfindung. Jetzt merkten die Gruppenmitglieder, deren Gruppenverantwortlicher ich seit einigen Jahren war, dass auch ich vor schweren und lebensweisenden Entscheidungen stehe und die Antworten nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln konnte, sondern meine Gruppe und ihre Lebenserfahrungen wirklich brauchte.

Ich entschied mich dann, das Altersteilzeitangebot in Anspruch zu nehmen, was bedeutete, dass meine aktive berufliche Laufbahn in der zweiten Hälfte des Jahres 2013 endete.

Vorsitzender gesucht

Anfang des Jahres 2012 stand im Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe Karlsruhe, der im Gegensatz zu vielen anderen Freundeskreisgruppen ein eingetragener Verein (e.V.) mit eigenen (angemieteten) Räumlichkeiten, diversen Gruppenangebote in 10 Gesprächsgruppen und mit über 150 Mitgliedern war, eine Veränderung in der Position des 1. Vorsitzenden an. Der bisherige 1. Vorsitzende brachte in den 9 Jahren seiner Amtszeit viele strukturelle notwendige Änderungen und Erneuerungen im Verein und der Suchtselbsthilfe auf den Weg. Neben dieser energiezehrenden Aufgabe hatte er auch noch einen Beruf, der ihn an seine physischen Grenzen brachte und er deshalb nicht zu einer weiteren Amtszeit in vorderster Front zur Verfügung stand.

Ich war zwar schon 17 Jahre im Freundeskreis, ausgebildeter Gruppenbegleiter und auch ein Jahr als Schriftführer für eine verstorbene Freundin im Vorstand aktiv, aber ansonsten hatte ich mich immer „gewehrt“ ein Amt im neunköpfigen Vorstand des Freundeskreises Karlsruhe zu übernehmen. Der Grund lag nicht am Freundeskreis, sondern ich war seit meinem 18. Lebensjahr bis ins Jahr 2007 in zwei Sportvereinen in der Vorstandschaft engagiert und sah somit meine Bürgerpflicht für das Allgemeinwohl erfüllt.

Repekt vor der Aufgabe

Die Suche nach einem neuen Vorstand war nicht einfach und so blieb es nicht aus, dass auch meine Person für das vakante Amt ins Spiel kam. Ich hatte großen Respekt vor so einer Aufgabe, zumal die Vorgänger in diesem Amt, welche ich ja alle persönlich erleben durfte, sehr große Fußstapfen hinterlassen hatten.

Ich setzte mich intensiv mit den Gedanken an ein Engagement als Vorsitzender im Freundeskreis Karlsruhe auseinander, denn meine berufliche Entscheidung führte ja dazu, dass ich in c. 1 ½ Jahren vor einer radikalen Änderung in meinem Lebensalltag stand, mit all den eingangs erwähnten Veränderungen und damit verbundenen Unsicherheiten und Ängsten.

Richungsweisende Entscheidung

So traf ich zum zweiten Mal innerhalb von knapp 3 Jahren eine richtungsweisende Entscheidung. Zwar dieses Mal nicht für das ganze Leben, aber zumindest für eine Wahlperiode von 3 Jahren. Mit der Unterstützung aller Freunde/innen im Rücken und deren überwältigendem Votum, nahm ich dann im März 2012 die Wahl zum 1. Vorsitzenden an. Ich entwickelte so manche Idee, fokussierte mich auf die Öffentlichkeitsarbeit, mit der Zielsetzung, die Hilfesuchenden besser zu erreichen und den Stellenwert der Selbsthilfe und speziell der Freundeskreise in den verschiedensten Richtungen zu fördern und zu stärken. Zwischenzeitlich endet im März 2021 meine dritte Amtszeit.

Positives Feedback

Ich bin froh und zufrieden beide Entscheidungen so getroffen zu haben. Ich habe in den letzten Jahren viel positives Feedback und Anerkennung erhalten und konnte in vielen Projekten mitwirken oder diese selbst auf den Weg bringen. Dies hat mich jung und agil gehalten und ich habe nach über 40-jähriger beruflicher herausfordernder Tätigkeit, mit dem ehrenamtlichen Engagement für die Freundeskreise mich einer erfüllenden Aufgabe gestellt, was ich bis heute keinen Tag bereut habe. Deshalb nur Mut und Offenheit für Lebensveränderungen und neue Herausforderungen zeigen und bist du im Zweifel – deine Freundeskreis-Gruppe hilft dir bestimmt dabei!

Dieter Engel
Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe Karlsruhe e.V.